Georgien – Zwischen den Welten

Kasbegi-Junge

Junge in Kasbegi, Georgien 2016 © emmenreiter.de

Durch die Georgischen Täler

„Was bitte wollt ihr in Georgien?!“ hat unser türkischer Gastvater Mehmet gleich mehrmals gefragt. Eine Antwort, die ihn milde stimmt, haben wir nicht parat. Micha und ich sind uns im Stillen allerdings einig, dass wir nichts zu befürchten haben. Im Gegenteil.
Etwas wehmütig sagen wir Mehmet am Morgen des 9. Junis Aufwiedersehen und fahren über Borçka und Artvin auf einer herrlichen Berg- und Talstrecke bis nach Şavşat. Diese Region der Türkei, auch bekannt als Georgische Täler, gehörte einst Georgien. Nicht weit hinter Artvin und der gigantischen Deriner-Talsperre, als wir genüsslich eine enge Schlucht entlang cruisen, hört sich mein Auspuff irgendwie seltsam an. Ich sehe einen Riss an der Verbindung zum Krümmer. Mit einer Schelle und Draht fixiert Micha den Auspuff provisorisch und ich hoffe, dass es im nächsten Ort einen Schweißer gibt. Ich umfahre jede Delle im Asphalt. Trotzdem bricht das Rohr schnell komplett auseinander und meine Emme verwandelt sich akustisch in eine wilde Raubkatze. Erst bin ich etwas erschrocken, aber dann gefällt mit der neue Klang. Nach 40 lauten Kilometern, kurz vor der Kleinstadt Şavşat, bremsen wir an einer ölverdunkelten LKW-Werkstatt. Der nette Chef über das Schweißgerät fackelt nicht lange. Nach einer dreiviertel Stunde kann unsere Reise mit einer wulstigen Schweißnaht am Auspuff happy weitergehen. Ich wette, mit dieser Naht schaffen wir es bis nachhause.

Auf einem Prospekt im Hotel Laset, ein paar Kilometer hinter Şavşat, lesen wir: „Das Tal von Şavşat ist so grün, dass man am liebsten eine Kuh wäre.“ Die haben recht. Und bei Sonnenschein sieht es bestimmt noch saftiger aus. Heute Abend verhüllen Regenwolken die Bergwiesenidylle.
Am nächsten Morgen tropft es immer noch von oben, als wir bergauf in Richtung Georgien losfahren. In der Nähe der Berge um Çıldır soll es seit kurzem einen neuen, dritten Grenzübergang geben. Die Leute auf der Straße in Ardahan weisen uns nickend und mit ausgestrecktem Arm den Weg, als wir nach „Gürcistan“ fragen. Je näher wir der türkisch-georgischen Grenze kommen, desto weniger Autos sind auf der Straße. Nach einem Passanstieg fahren wir fast allein bei extrem düsterer und kühler Witterung auf einer weiten, baumfreien Hochebene einen See entlang, an dessen Ufer sich Pelikane das Gefieder putzen. Irgendwo hier soll die Grenze sein. Tatsächlich sehen wir in dieser wolkenverhängten Einsamkeit bald riesige Fahnenmasten und hellgraue Grenzgebäude am Horizont. Wir und ein georgischer Autofahrer sind die einzigen, die die Schranken passieren wollen. Den gelangweilten jungen Zollbeamten kommen wir auf unseren beladenen Motorrädern gerade recht. Neugierig und freundlich bitten sie uns, die Koffer zu öffnen. Um Geduld bemüht erkläre ich dem Uniformierten sämtliche Utensilien aus meinem Tankrucksack. Derweil schallt zum letzten Mal der türkische Muezzin durch die Lautsprecher. Die neugierigen Zöllner bedanken sich für die Gepäckschau und weiter geht’s zum georgischen Posten. „Das gleiche Spiel nochmal, wetten!“, sagt Micha. Die Georgier allerdings fragen mich nur nach Medikamenten. Jetzt bloß nicht die komplette Reiseapotheke ganz unten im Alukoffer durchwühlen lassen, denke ich, und lege nur die Tabletten aus der Waschtasche vor. Die werden sorgsam begutachtet und danach rollen wir auf der georgischen Landstraße nach Akhalkalaki, um als erstes billigen Sprit zu tanken. Micha und ich sind erschrocken, wie trist und verloren die einfachen Bauerndörfer am Rande Georgiens erscheinen, die wir im Regenwetter durchfahren. Das drückt auf die Stimmung.

Vorstadt: Zu Gast in Gldani

Resigniert vom miserablen Fahrwetter lenken wir die Emmen noch 180 Kilometer nach Tiflis. Die Straße ab Ninozminda über Tsalka ist immerhin in einem guten Zustand, schön gelegen und schön leer. Nur fünf Grad zeigt das Thermometer stellenweise an. „Ich bin stolz auf Dich, dass Du das mitmachst.“ tröstet mich Micha zwischendurch.
In Tiflis wollen wir unsere Freundin Ani besuchen, die wir auf unserer ersten Georgienreise vor acht Jahren kennengelernt hatten. Die Aussicht auf das Wiedersehen verbessert meine Laune. Endlich in der Hauptstadt angekommen versuchen wir auf überspülten und teils gesperrten Straßen irgendwie in den nördlichen Stadtrand, nach Gldani, zu gelangen. Wir sind dort an einer Metrostation mit Ani verabredet. Leider navigiert unser Smartphone nicht mehr, seit wir in Georgien sind. Ani und ihr Mann Schotiko gabeln uns einen Anruf später an einer Tanke auf. Erleichtert, glücklich über das Wiedersehen und ziemlich k.o. sitzen wir abends mit der Familie am reich gedeckten Tisch. Anis liebe Mutter lässt die selbst gemachten und mit Fleisch gefüllten Teigtaschen (Rhinkali) in den Kochtopf plumpsen. Mit mildem georgischen Weißwein wird unzählige Male auf unsere Reise, ein langes und gesundes Leben, auf die Frauen und Kinder angestoßen. Anis kleine Tochter lächelt uns an. Dieser Empfang ist einfach nur herzlich. Satt, müde und etwas schummerig vom Wein fallen wir mit einem wohligen Gefühl ins Bett – in einem kleinen Haus mit Garten im Vorort von Tiflis.

Die nächsten Tage machen wir gemeinsam einen Ausflug zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, lassen uns zuhause mit georgischen Spezialitäten verwöhnen, treffen Anis Freund Gotscha wieder, reden viel über das Leben in Georgien und in Deutschland. Wir haben den Eindruck, als befinde sich das kleine Land im Kaukasus irgendwie zwischen den Welten. Wie viel Sowjetunion und Russland steckt noch in diesem Land? Was macht Georgiens traditionelle Identität aus? Und wie europäisch könnte Georgien werden? Jeder hier hofft, dass sich das Leben modernisiert. Und es verbessert sich hier und da, langsam allerdings und nicht für jeden. Der Arbeitsmarkt ist eine Katastrophe. Wir können kaum glauben, wie wenig Geld sich in Georgien verdienen lässt. Laptop, Möbel oder ein Gebrauchtwagen sind Luxusgegenstände, die lange erarbeitet werden müssen.
Nach vier Tagen im Alltag von Ani und ihrer Familie sagen wir traurig Aufwiedersehen und kehren zurück auf die Motorräder. Es geht in die östliche Region Kachetien, in die „Wiege des gelobten Weines“ – nur zwei Fahrstunden von Tiflis entfernt. Es ist spät am Nachmittag und wir sind gerade 15 Minuten unterwegs, da bemerkt Micha an der Tankstelle ein Knacken in seinem Hinterrad. Er baut es sicherheitshalber an Ort und Stelle aus. Ein Speichenkopf ist abgebrochen und rotierte in der Bremstrommel. Nach einer Stunde fahren wir wie gewohnt weiter. Nur 50 Kilometer später, als wir den Gombori-Pass (1.620 m) nach Telawi hinunterrollen, klackert Michas Hinterrad erneut.

Heiliges Kachetien: Klöster, Wein und Quellen

Morgens in Telawi. Ich werde wach vom Knarren des alten Parketts. Micha schleicht gerade durch das Haus, in dem wir übernachtet haben, und macht Fotos. Das kleine Bürgerhaus von 1940 gleicht einem Museum. Draußen blättert die Farbe von den Holzfenstern. Der glänzende Lack der alten Holzmöbel und des Flügels im Wohnzimmer sind dagegen nahezu unversehrt. Die Wände sind mit matter Farbe und einem Karomuster handverziert. An der Decke sieht man alte Wasserflecken und an der offenen Balkontür wehen lange Gardinen ins Zimmer.
Die süße Tata, 25 Jahre alt, vermietet das leerstehende Haus ihres verstorbenen Großvaters seit drei Monaten an Touristen. Er war damals ein renommierter Unternehmer und betrieb eine Autowerkstatt. In den großzügigen Räumen, die wir momentan für uns alleine haben, ist diese Zeit stehengeblieben und fast sehe ich das Hausmädchen in einer weißen Schürze über die Veranda huschen.
16 Euro kostet uns die Übernachtung in Tatas „Winehouse“ – mit bestem Blick auf die weißen Gipfel des Großen Kaukasus. Tata und ihre Freundin hatten uns bei Ankunft sehr freundlich mit Eiscreme, Keksen und Tee empfangen. „Gefällt es Euch?“ fragt Tata immer wieder und bemüht sich mit großer Gastfreundschaft darum, dass wir uns wohlfühlen. Sie deckt mittags den antiken Tisch im Wohnzimmer mit Rhinkali, Spiegeleiern, Bratkartoffeln, saftigen Tomaten und Gurken. „My present for you“, sagt sie lächelnd. Auf ihrer facebook-Seite zeigt sie uns stolz Fotos von Kleidern, die sie entworfen hat. „I am designer!“ Derzeit verschönert Tata die Fliesen im alten Außenbad des Hauses mit Farbe. Bald wird auch wieder eigener Wein im „Winehouse“ hergestellt. Aber das dauert noch ein bisschen.
Micha ist auf dem Hof den ganzen Tag dem Klackern seines Hinterrades auf der Spur. Er untersucht die Speichen. Er prüft die Radlager. Nach zwei erfolglosen Testfahrten baut er den kompletten Hinterradantrieb auseinander. Endlich hält er den vermeintlichen Übeltäter in seinen verschmierten Händen: die Distanzhülse mit angebrochenem Stehkragen. Mit der Feile bearbeitet wird die Hülse wieder eingebaut, noch der Tachoantrieb gesäubert und siehe da, das Rad dreht sich zum Glück geräuschlos.
Gelöst von der spannenden Reparatur entscheiden wir, noch zwei Tage länger an diesem netten Ort zu bleiben. Wir cruisen an großen Weinfeldern entlang zu den malerisch gelegenen Klöstern. Im Nonnenkloster Bodbe in Sighnaghi stoßen wir beim Spaziergang entlang des prächtigen Klostergartens auf eine spannende Steintreppe, die hinunter in den Wald führt. „Holy Spring“ ist darauf ausgeschildert. Nach 665 Stufen kommen wir an der heiligen Quelle an, die in einer dunklen winzigen Felsenhöhle plätschert. Vor dem Eingang drängelt sich eine kleine Traube Menschen. Sie halten weiße Tücher in den Händen. Frauen und Männer werden getrennt und nacheinander in die dunkle Höhle gelassen. Wir kaufen der Nonne, die die Quelle bewacht, ebenfalls zwei weiße Tücher ab – es sind knielange Baumwollhemden, die wir anziehen müssen, bevor wir im eiskalten Becken der Quelle dreimal abtauchen dürfen. Diesem rituellen Bad wird eine wundersame Heilwirkung nachgesagt. Frisch gebadet laufen wir die laaaange Treppe zurück nach oben – mit den tropfenden weißen Hemden in der Hand.

Kasbegi: Dorf unter Wolken

Von Telawi aus gibt es eine Straße, die uns direkt zur Georgischen Heerstraße bringt. Von dort soll es nach Kasbegi und dann weiter nach Russland gehen. Die Einheimischen raten uns dringend, zurück nach Tiflis und von dort auf die Heerstraße zu fahren. Alle würden diesen Umweg aufgrund des Straßenzustands in Kauf nehmen. Wir wollen es dennoch auf direktem Wege versuchen.
Hinter Achmeta, 30 Kilometer von Telawi entfernt, beginnt dann tatsächlich eine Schotterpiste. Es sind nur 26 Kilometer, die wir darauf abreiten und es macht mir echt Spaß. Ab dem Ort Tianeti ist die Straße dann neu asphaltiert. Allerdings nicht lange. Dann stoßen wir auf wüste Bauarbeiten. Da es ab und an regnet, manövrieren wir die Emmen die restlichen 15 Kilometer bis zur Heerstraße über eine schmierige Motterpiste, die die Rillen unserer Enduroreifen verkleistert.

Die Heerstraße bis Kasbegi ist heutzutage durchweg in einem guten Zustand – auch oben am Kreuzpass (2.379 m). Die Fahrt durch die Berge beeindruckt uns genauso wie damals. Da die Grenze zu Russland seit ein paar Jahren passierbar ist, ist allerdings viel mehr Verkehr unterwegs. Kurz vor Kasbegi (Stepansminda) fahren wir an einer endlosen Reihe wartender Lastwagen vorbei.
In dem kleinen Dorf, das vor bedrohlich wirkenden Bergwänden liegt und im Sommer zum Hotspot für Wandertouristen wird, übernachten wir wieder in „Maia` s Guesthouse“. Vor acht Jahren standen hier nur zwei Betten in einem riesigen leeren Zimmer und es gab ein Plumpsklo auf dem Hof. Mittlerweile hat die Familie ein Badezimmer für die Gäste gebaut und aus dem großen Raum wurden vier Zimmer. Auf dem Osthügel des Dorfes steht nun außerdem ein geschmackvolles Luxushotel und das Dorfzentrum hat ein modernes Restaurant. Ansonsten ist Kasbegi noch genauso wie wir es kennen – ein Dorf, dessen vorwiegend graue Tönung durch bunte Hoftore und überirdische Gasleitungen unterbrochen wird. Vormittags, wenn das Vieh längst auf der Weide ist, ziehen in der Regel dicke Wolken auf und verdecken die Sicht auf die Gergeti-Kirche und den Fünftausender Kasbek. Deshalb klettern wir sehr früh bei Sonnenschein und blauem Himmel eine Stunde lang zur Kirche hinauf.
Nach drei Tagen in Kasbegi, am 20. Juni, machen wir uns auf den Weg zur russischen Grenze, die nur zehn Kilometer entfernt ist. Wir sind etwas nervös, weil wir hier die erste Visa-Grenze überqueren und nicht abschätzen können, wie gut oder schlecht das Prozedere verläuft…

> So geht`s weiter: Russland: Durch Kalmückien zum Wolgadelta
< Vorherige Reisegeschichte

Die ganze Reise im Überblick – mit Route, allen Reisegeschichten und Bildern:
Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad

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3 Gedanken zu “Georgien – Zwischen den Welten

  1. Hallo Ihr zwei,
    schön , dass eure Emmen wieder laufen. Der Schweißprofi hat mit dem Kopf geschüttelt, mit der Schweißnaht hätte man hier keine Prüfung bestanden. Aber Hauptsache: Alles hält.
    Viele Grüße aus Pk. Wir drücken euch. Heiko und Tante Eva

  2. Liebe Emmenreiter,
    auch wir sind begeisterte Reisende und zur Zeit auf einer Skandinavien Rundreise bis zum Nordkap. Nicht mehr so jung und risikobereit wie ihr bevorzugen wir den eigenen PKW. Auch sind wir nur drei Wochen unterwegs, pflegen aber auch einen Blog und freuen uns über Kommentare. Deshalb grüßen wir euch an dieser Stelle ganz herzlich und wünschen weiterhin eine gute Reise. Wir lesen alles von euch und sind begeistert von den interessanten Fotos und spannenden Texten.
    Peter und Ulla Günther aus Pritzwalk

  3. Hallo liebe Kinder,
    es war wieder ein sehr schöner Reisebericht und wunderschöne Fotos. Das erste Foto ist dabei, wo Suse nicht lächelt!! Ihr müsst keine Angst vor Russland haben, an der Grenze steht doch nicht Putin, die Gastfreundschaft des Russischen Volks wird Euch eben so begeistern wie in den anderen Ländern.
    Wir wünschen Euch eine gesunde Weiterreise und grüßen Euch ganz herzlich
    Eure Sani und Ihr Hötzli
    Limbach-Oberfrohna am 26.06.2016