Achtung – Einsturzgefahr!
26. Juli 2009. Die erste Nacht ist überstanden. In der letzten Zeit hatten wir uns an unzähligen Orten in so viele verschiedene Schlafstätten gelegt. Eher selten reinlich und bequem. Einfach nur pragmatisch. Und nun ist selbst das Bett in der Heimat irgendwie eines von vielen geworden. Jedenfalls in den ersten Tagen. Das Gefühl, am Ziel oder wieder zuhause zu sein, stellt sich noch nicht ein. Vierzehn eingängige Monate in einer anderen Welt hinterlassen Spuren. Wann geht’s weiter?
Wir hatten uns von unterwegs aus vorgenommen, die ersten Wochen langsam anzugehen: Familie und Freunde besuchen, Grillabende, Ausflüge zum See… Eine romantische Idee, die nicht funktioniert. Nach der Wiedersehenseuphorie stürzt das deutsche Leben auf uns ein. Das Handy wird reanimiert. Wochentage werden wieder wichtig, ohne Terminkalender verlieren wir den Überblick. Die Liste wird immer länger: Zollamt, Krankenkasse, Arbeitsamt, Versicherungen, liegen gebliebene Briefe und Papierkram, Einkommensteuererklärung, Arztbesuche, tausende Reisefotos sortieren, E-Mails aus aller Welt beantworten, die Pakistan-Spendenaktion abschließen, vielleicht ein Buchprojekt starten, wo wohnen und arbeiten? Die Aufzählung könnten wir noch ein paar Zeilen lang fortführen – ein chaotischer Neustart ins neue alte Leben mit gefährlicher Geschwindigkeitsüberschreitung.
Was daneben an uns vorbeirauscht, ist schwer zu verarbeiten: Überfluss! Zu viele Informationen, zu viele Produkte, zu viel Krimskrams. Am liebsten möchten wir uns von allem Nutzlosen befreien. Physisch und psychisch. Ein erster Schritt in Richtung geordnete Bahnen. Der Drang zum Ausmisten ist groß – außer beim Reisegepäck, dass wir einfach nicht auspacken wollen. Wir sind von allem überwältigt. Die Gefühle sind schwer zu fassen. Tausend Ideen und Stresshormone rasen durch die Blutbahn. Schlaflose Nächte. Ankommen ist schwerer als losfahren! Wir genießen trotzdem schöne Momente mit Familie und Freunden, lassen uns Nutella schmecken und verwöhnen den Darm mit anderen bakterienfreien Köstlichkeiten. Der Gang zum Kleiderschrank ist auch herrlich, nachdem wir lange pragmatisch gekleidet waren. Wir entdecken die bunten alten Sachen neu. Wir hören Musik und holen auf, was wir verpasst haben: neue Alben von MIA und Peter Fox zum Beispiel. Wir laufen die schöne alte Waldstrecke ab und fahren an einem sonnigen Morgen hoch aufs Windrad. Da verschaffen wir uns wenigstens einen räumlichen Überblick. Es riecht nach Sommer in der Prignitz.
Leere Alukisten: Der endgültige Abschied
3. Oktober 2009. Ein bedeutsamer Tag. Nach über zwei Monaten bringen wir es heute endlich übers Herz, die Motorräder und Reisetaschen auszupacken. Die täglichen Klamotten werden schon lange nicht mehr der wasser- und staubdichten Ortliebtasche, sondern dem Kleiderschrank im Schlafzimmer entnommen. Unsere Nahrungsvorräte kramen wir nicht mehr aus dem Alukoffer, wir machen einfach den Kühlschrank auf. Salate und Fleischgerichte verursachen keine Darmkrämpfe mehr. Dafür tut der Kopf weh vom vielen Nachdenken. Beim Duschen können die Badelatschen wegbleiben und das heiße Wasser nimmt kein erschreckendes Ende. Seitdem wir zurück sind, wachen wir morgens auf und gucken in den Terminkalender statt auf die Landkarte oder ins Reisebuch. Ja, unser geliebtes Reisedasein ist zu Ende. Und das Auspacken der Motorradkoffer der endgültige Abschied.
Wehmütig surfen wir auf den Reiseblogs von Freunden, die wir unterwegs kennengelernt haben und die immer noch das Abenteuerleben genießen. Oft blitzen Gefühle und Gedanken durch den Körper, die uns an die bewegende Zeit auf der Emme erinnern. Das Reisefieber hat uns erwischt. Eine gefährliche Krankheit, die in Schüben kommt.
Aus der Tageszeitung schütteln wir einen Stapel Supermarktwerbung. Überflüssiger Konsum! Mit Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Eiern, Joghurt, Bananen, Milch, Wasser und Saft sind wir in letzter Zeit doch bestens ausgekommen. Im Kleiderschrank hängen auch zu viele Klamotten. Die landen jetzt im Altkleidersack. Je weniger wir haben, desto erleichterter sind wir. Das trifft allerdings nicht auf die wertvolle Zeit zu. Das alte Zeitgefühl hat uns wieder im Griff. Schöne Momente genießen wir jetzt allerdings bewusster. Hoffentlich halten diese Erkenntnisse an.
Zurück in Deutschland überfordern uns die Medien mit dem Bundestagswahlkampf. Bei „Anne Will” und „Hart aber Fair” verdrehen uns die Versprechen der Politiker, die Warnungen der Experten und die Kommentare der Journalisten den Kopf. Frau Merkel will Bundeskanzlerin bleiben. Eine Frau an der Spitze, die sich im Ausland einen Namen gemacht hat. „We are from Germany.” – Dieser unzählig ausgesprochene Satz hatte auf unserer Reise meistens Bewunderung ausgelöst. Deutsche gelten als stark, mutig und reich. Wir machen uns Gedanken über unser Land und wer wir wirklich sind.
Vier Monate nach unserer Heimkehr zieht es uns mitten in den Hauptstadtdschungel. Hier beginnen wir den nächsten Lebensabschnitt mit neuen Jobs, einer neuen Wohnung und einer Garage, in der beide MZ-Motorräder viel zu lange auf eine Ausfahrt warten.
Das war er also – der letzte Beitrag unserer ersten großen Reise.
Danke für Eure Neugier und Begleitung bis zur letzten Zeile!
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