Samagaun: Tibeter-Olympiade vor dem weißen Riesen
12. April 2017 – der neunte Wandertag. „Ab jetzt nur noch Lunch-Camp“, freut sich unser Bergführer Bhim. Damit meint er, dass wir bis zum Ende der Manaslu-Runde jeden Tag nur noch bis mittags unterwegs sind. Das heißt allerdings auch, dass wir weniger Pausen machen werden. Denn: „Many Pausi, many cold!“, lächelt Bhim.
Um halb zwölf haben wir heute bereits Samagaun (3.520 m) erreicht. Der Ort liegt am Ende einer weiten Hochebene. Mit jeder Stunde umhüllen immer mehr Wolken die Spitze des Manaslus, bis er an diesem Nachmittag ganz und gar hinter einem kalten Nebelvorhang verschwunden ist. Damit wir uns besser an die Höhenluft anpassen, werden wir zwei Nächte in Samagaun bleiben. Am nächsten Tag brechen wir zu einem Ausflug zum Pungen Gompa auf. Das abgeschiedene, tibetische Bergkloster versteckt sich auf 4.120 Metern in Richtung Manaslu und ist umringt von imposanten, schneeweißen Gebirgsketten. Bhim ist ebenfalls noch nie dort gewesen. Als wir zu dritt an Murmeltieren, Blauschafen und Yaks vorbei über das flache Gras einer Hochalm dem Kloster entgegenlaufen, hören wir ein neues deutsches Wort aus Bhims Mund: „Waaaahnsinn!“ Die Ostseite des Manaslus schlägt in voller Pracht vor uns auf. Wir sind dem Achttausender so nah, dass der Weg zum Gipfel nicht so weit erscheint – dabei liegt er immer noch 4.000 Höhenmeter über uns.
Als wir am frühen Nachmittag wieder nach Samagaun absteigen, haben sich die Menschen aus den umliegenden Dörfern auf der Weide zu einem Fest versammelt. Die Männer haben ihre stumpfen Fellmäntel gegen schimmernde Umhänge getauscht und tragen farbenprächtige, schmückende Gürtel und Mützen. Sie sitzen in einem weiten Kreis auf dem Gras. Ihre Frauen und Kinder sitzen etwas abseits ebenfalls auf der Erde und beobachten die traditionellen Wettkämpfe, die gleich starten werden: Bogenschießen, Tauziehen und Pferderennen. Wir hocken uns mit an den Rand und müssen aufpassen, dass wir nicht zu nah an die Schusslinie der langen Pfeile geraten. Die Sonne ist schon eine Weile im grauen Himmel verschwunden und durchgefroren, noch bevor der wilde Pferdewettlauf losgeht, laufen wir vom Tibeterfest zur Lodge zurück.
Neuschnee in Samdo
14. April 2017. Happy New Year! Heute beginnt das nepalesische Neujahr 2074. Ich nehme unsere steifgefrorenen Socken von der Wäscheleine und lege sie in die wärmende Morgensonne, solange wir frühstücken gehen. Wir fühlen uns fit und bis mittags steigen wir an einem türkisblauen Gletschersee vorbei nach Samdo auf. Das kleine Tibeterdorf (3.875 m hoch) ist noch sehr ursprünglich. Statt knallblauer Wellblechdächer decken schwere, dunkelgraue Steinplatten die Häuser ab, in denen die Menschen dicht bei ihren Tieren leben. Nicht alle Bewohner bleiben den strengen Winter über im Dorf. Sie kehren erst jetzt im Frühjahr mit beladenen Pferden und Maultieren über den Larke-Pass aus tieferen Ebenen zurück.
Bhim besorgt einen Eimer heißes Wasser aus der Küche und Micha und ich nehmen nacheinander im engen, niedrigen Klohäuschen eine schnelle „Dusche“ über der Hocktoilette. Durch die scheibenlose Fensterluke weht die kalte Luft auf meine nasse Haut und bibbernd rubbel ich mich so schnell es geht trocken. Jetzt noch zügig die lange Unterwäsche überstreifen, ohne das etwas ins Hockklo fällt, und raus hier.
Mir ist nachmittags etwas übel von der Höhe und wir ziehen uns mit einer großen Thermoskanne heißen Zitronentee in die winzige Schlafkammer zurück. Die Nachmittagswolken türmen sich heute viel stärker auf als sonst. Beide Teebecher dampfen und wir beobachten vom Schlafsack aus, wie das Bergwetter vor unserem Fenster immer ungemütlicher wird. Der Wind pustet durch die Ritzen am Holzfensterrahmen herein. Plötzlich klatschen feuchte, dicke Schneeflocken gegen die Scheibe. Das Yak da draußen am Hang sucht weiterhin völlig unbeeindruckt nach Gras, während der Schnee auf sein schwarzes, dickes Fell weht. Meine Nasenspitze ist ganz kalt. Obwohl es in unserer Kammer kaum wärmer ist als draußen, macht sich ein uriges Gefühl von Geborgenheit breit.
Nach dem Abendessen – Bratkartoffeln mit Yakkäse bestreut – huschen wir schnell zurück auf die schmalen Betten und schlafen bald ein. Bhim verbringt den Abend wie immer mit den Bergführern anderer Wanderer, die sich in der Lodge meistens auch ein Zimmer teilen.
Wir müssen diese Nacht viel öfter zum Pinkeln raus, als uns lieb ist – ein ganz normales Phänomen im Hochgebirge. Genau wie die Schlafstörung, unter der Micha jetzt leidet. Er kommt fast gar nicht zur Ruhe und steht fünfmal mit der Taschenlampe auf.
Die aufgehende Sonne schiebt sich endlich langsam über die Berge und bald hebt sich eine strahlend weiße Winterlandschaft vor einem knallblauen Himalajahimmel ab. Ich laufe in Badelatschen durch den angefrorenen Neuschnee zur Toilette. Eiszapfen hängen vom Überdach herunter und sogar auf der Wäscheleine balanciert eine Schicht Schnee. Die schwarzen Yakherden des Dorfes heben sich wunderschön von dieser verwandelten, windstillen Landschaft ab.
Die Bergsonne wird schnell kräftiger und bald tropft es überall von den Steindächern. Bis zum frühen Nachmittag hat sich fast das ganze Weiß in der Sonne aufgelöst. Zusammen mit Ursula und Marc, die genau wie wir erst morgen weiterwandern, setzen wir uns mit einer Schachtel Buntstifte nach draußen und malen gekochte Eier an. Morgen ist Ostersonntag. Und außerdem sind wir dann genau ein Jahr lang im bunten Asien unterwegs.
Höhenrausch: Im Mondschein zum Larke-Pass
Am Ostersonntag brechen wir nach Daramshala auf – ein einfaches Camp auf 4.460 Metern, von dem aus wir übermorgen den Larke-Pass angehen. Wir sind heute nur drei Stunden lang unterwegs, aber in dieser Höhe bin ich schnell außer Atem. Das Herz boxt regelrecht gegen die Brust , aber es beruhigt sich auch schnell wieder, sobald ich eine kurze Verschnaufpause einlege.
In Daramshala haben wir die Wahl, im Zelt oder in einer Felssteinkammer zu übernachten, die einem kleinen Viehstall gleicht, in den man drei Pritschen gestellt hat. Wir entscheiden uns für letzteres. Ich muss wieder einmal gegen Übelkeit ankämpfen, bis sich mein Körper an die neue Höhe gewöhnt hat. Wir überbrücken die Zeit bis zum Abend mit Würfelspielen. Andere Wanderer, die mit uns im Camp sind, sitzen mit Büchern in der Sonne oder laufen derweil zur besseren Akklimatisierung auf die umliegenden Hügel hinauf. Irgendwann fühle ich mich besser. Gleichzeitig steigt die Aufregung. Heute Nacht um drei Uhr wird der Wecker klingeln. Um vier laufen wir los, hat Bhim gesagt. Hoffentlich spielt das Wetter mit und wir haben einen freien Blick auf die Berge, wenn wir am Pass ankommen.
Es ist duster und arschkalt, als wir aufstehen müssen. Unsere Köpfe sind sofort wach, aber unsere Körper wollen noch schlafen und wir spüren beide ein flaues Gefühl im Bauch. Im Licht der Taschenlampe packen wir die Sachen zusammen, versuchen dann, noch etwas zu frühstücken und los geht’s. Ein paar Wanderer sind schon vorgegangen und ihre Stirnlampen bewegen sich in der Dunkelheit langsam aufwärts. Wir knipsen ebenfalls die Lampen an und sind froh, dass der Mond zusätzlich etwas Licht spendet.
Bhim hat diesmal seine Winterjacke, Winterhose und Halbstiefel angezogen. Motiviert läuft er voraus. Etwas zu schnell, wie ich finde. Der Anstieg hat es anfangs in sich und mir bleibt sofort die Puste weg. Man sagt, ein Berg erscheint Menschen dann besonders steil, wenn sie müde sind, einen schweren Rucksack tragen oder Angst haben.
Hinter uns ändert der Himmel allmählich seine Farbe von schwarz zu blau. Das ist ein schöner Anblick und ein schönes Gefühl. Bald wird die Sonne aufgehen. Wir laufen weiter und kommen langsam in den richtigen Rhythmus. Micha fühlt sich gut. Mir dagegen ist schwindelig und ich fühle mich betrunken. Wir laufen über mehrere Schneefelder, aber die Steigung und der Weg sind jetzt angenehmer. Beim Larke-Pass handelt es sich nämlich nicht um eine Spitze, sondern um eine Ebene, der man stetig entgegenläuft. Es ist etwa halb acht, als wir auf einmal an Gebetsfahnen vorbeikommen. Sind wir oben? Bhim, der vorangegangen ist, hat seinen Rucksack abgesetzt und winkt uns entgegen. „Wir sind am Pass – da steht das Schild!“ sage ich erleichtert zu Micha. Die Sonne scheint längst grell und präsentiert die schneeweißen Himalajagipfel ringsum in perfektem Licht. Eisige Windböen zerren an den bunten Gebetsfahnen. Wir drei schießen unsere verdienten „Gipfelfotos“ und nehmen einen köstlichen Schluck von dem einheimischen Rum, den Bhim aus seiner Jackentasche hervorgezaubert hat. Mir ist immer noch etwas schwindelig, aber jetzt fühlt es sich gut an. „Let`s go!“ fordert uns Bhim zum Abstieg auf – und der hat es in sich.
Ein steiler, steiniger Pfad schlängelt sich weit nach unten. Schnee und Eis machen die Sache stellenweise sehr rutschig. Mir ist nicht wohl dabei und ich muss an die leichten Steigeisen denken, nach denen uns Madan in Kathmandu gefragt hatte. Aus dem Tal steigt heute außerdem eine Karawane zum Pass auf. Der Trampelpfad ist schmal und wir müssen zusehen, dass wir den beladenen Pferden rechtzeitig Platz machen. Eines der Pferde fängt trotzdem an zu scheuen und flüchtet vor uns auf den verschneiten Berghang. Bhim wird hektisch und fordert uns auf, weiter zu klettern. Er hat Angst, das Pferd könnte jeden Moment an uns vorbei abstürzen.
Irgendwann haben wir den rutschigen Teil des Abstiegs geschafft. Danach laufen wir stundenlang über steinige Wege nach unten. Am frühen Nachmittag, als meine kraftlosen Beine vom endlosen Bergab nur noch dahin stolpern, erblicken wir endlich die Dächer von Bhimtang. Wir lassen an der ersten Lodge, die wir passieren, unsere Rucksäcke fallen. Marc und Ursula sind kurz vor uns eingetroffen und nun sitzen wir gemeinsam da und genießen das zufriedene Gefühl, es geschafft zu haben. Ich zerre an meinen Stiefeln und Socken und befreie endlich meine Füße. Nach einer fließenden, heißen – ja, einer heißen – Dusche fallen wir gelähmt in einen wenig erholsamen Mittagsschlaf. Wir sind heute etwa 1.500 Höhenmeter abwärts gelaufen und an diesen Unterschied muss sich der Körper auch erst zurück gewöhnen. Nachts haben wir glücklicherweise den besten Schlaf, den man sich vorstellen kann, und nach dem Frühstück setzen wir die Manaslu-Runde munter fort. Ab jetzt geht es nur noch bergab.
In ein paar Stunden ist Frühling
Mit jeder Stunde, die wir talwärts laufen, wird es frühlingshafter. Sträucher haben jetzt Knospen. Dann kleine Blüten. Bald kommen wir durch urwüchsige Wälder, in denen prachtvolle Rhododendronbäume in voller Blüte stehen: weiß, pink und rot. Der Weg bis Surki (2.700 m) ist ein entspannter Spaziergang durch eine wunderschöne Berglandschaft, durch die ein von Gletschersedimenten milchig gefärbter Fluss strömt. Langurenaffen klettern an den Hängen umher.
Kurz vor Dharapani (1.963 m), wo die Manaslu-Runde auf die Annapurna-Runde trifft, wird gerade eine neue Jeepstraße in die Berge gesprengt. Sie soll irgendwann Bhimtang erreichen. Was den abgelegenen Bergdörfern eine Hilfe ist, wird vielen Wanderern allerdings nicht gefallen. Mit jeder Straße geht erfahrungsgemäß bald auch die besondere Ursprünglichkeit einer Region verloren, die den Wandertourismus überhaupt erst reizvoll macht.
In Dharapani steigen wir in einen Jeep um – eine Rüttelto(rt)ur der schlimmsten Sorte. „Do you like Nepali Highway?“, lacht uns Bhim während der Fahrt von der Rückbank zu. Die Räder des Wagens poltern im ersten Gang über unglaubliches Geröll. Die Reifen sind soweit abgefahren, dass bereits die Karkasse durchschimmert. Micha und ich halten uns irgendwo fest, so gut es geht. Trotzdem stößt mein Ellenbogen und Bein immer wieder ruckartig gegen die Jeeptür. Das gibt blaue Flecken. Nach fünf Stunden steigen wir genauso erschöpft wie nach einer langen Tageswanderung in Besisahar (760 m) aus. Wir sind zurück im Hochsommer und nur noch eine elfstündige „Deluxe“-Busfahrt von Kathmandu entfernt. Dort warten schon ein privates Badezimmer, ein leckeres Restaurant und ein weiches Bett auf uns.
Unsere Manaslu-Umrundung in Zahlen
- Anreise von Kathmandu bis Arughat (608 m): 7,5 Stunden nepalesische Busfahrt
- Arughat (1) bis Pokhori (Bhims Heimatdorf, ca. 1.500 m): 7,25 Stunden
- Pokhori (2) über Armala und Dorba bis Lapubesi (884 m) : 9,25 Stunden
- Lapubesi (3) bis Khorlabesi (970 m): 5 Stunden
- Khorlabesi (4) bis Jagat (1.340 m): 7,25 Stunden
- Jagat (5) bis Pewa (1.800 m): 7,5 Stunden
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Pewa (6) bis Namrung (2.630 m): 9 Stunden – mit Pausentag in Namrung
- Namrung (7) bis Lho (3.180 m): 4 Stunden
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Lho (8) bis Samagaun (3.520 m): 3,5 Stunden – mit extra Tag in Samagaun für Tagestripp zum Pungen Gompa (4.120 m): 5,5 Stunden
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Samagaun (9) bis Samdo (3.875 m): 4,25 Stunden – mit Pausentag in Samdo
- Samdo (10) bis Dharamsala (4.460 m): 3 Stunden
- Dharamsala (11) über Larke Pass (5.106 m) bis Bhimthang (3.590 m): 8,75 Stunden
- Bhimthang (12) bis Surki/Kharche (2.700 m): 4 Stunden
- Surki/Kharche (13) bis Dharapani (1.963 m): 4 Stunden
- Dharapani (14) bis Besisahar (760 m): 5 Stunden Rüttelfahrt im Jeep
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Besisahar (15) bis Kathmandu (1.355 m): 9,5 Stunden im nepalesischen „Deluxe“-Bus
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Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad