Plan B: Kiew
3. Juli 2017. Die Bahnstrecke Moskau bis Kiew ist 756 Kilometer lang. Nach etwa 13 Stunden und einer Nacht im voll belegten Schlafwagen steigen wir morgens in der ukrainischen Hauptstadt aus dem Zug. Vor dem Bahnhof lauert schon die Taxifahrermeute. Wie auf einem Basar wird hier mit üblichen Tricks der Fahrpreis verhandelt. Als wir den Männern mit riesigen Packtaschen entgegen staksen, wittern sie leichte Beute. Aber wir beherrschen ihr Spiel. Als beide Seiten zufrieden sind, geht es über den Dnepr in den Südosten der Stadt – nach Osokorki. Wir haben gute Laune. Die Sonne blitzt im Fluss.
Osokorki ist ein Labyrinth aus neueren Hochhäusern, mit Spiel- und Parkplätzen dazwischen. In den untersten Etagen der Wohnblöcke gibt es kleine, praktische Geschäfte – Apotheken, Büros, Kosmetikstuben, Handyshops… Das Stadtviertel erscheint lebendig und freundlich. In der Nähe der Metrostation verkaufen Leute verlockendes Obst und Gemüse: Pfirsiche, Kirschen, Himbeeren, Blaubeeren, Tomaten, Gurken, kleine Kräuterbündel. Die Schrebergärten liegen gleich um die Ecke und die Verkaufspreise sind unglaublich niedrig. Die Währung des Landes, Hrywnja, hat seit einigen Jahren dramatisch an Wert verloren.
Die Ferienwohnung, die wir übers Internet gemietet haben, liegt im 18. Stock. Wir stehen jetzt mit dem Gepäck vor dem Blockaufgang Nummer 6 und die Vormittagssonne scheint grell auf das weiße Hochhaus. Meine zugekniffenen Augen gucken an der weiten Fassade entlang nach oben. Hinter uns funkelt im Schatten der Wohnblöcke die goldene Kuppel eines Kirchenneubaus. Der Eingang ins Haus wird durch eine ältere Dame überwacht, die drinnen in einer gemütlichen Pförtnerstube sitzt. Hinter ihr steht ein altmodisches Schlafsofa. Auch sie hat ein paar Becher Himbeeren zum Verkauf ausgestellt. Oben angekommen verwandeln wir die sonnige, fremde Wohnung mit Balkon im Handumdrehen in unser neues Zuhause. Wie oft haben wir das bis hierher eigentlich schon gemacht? Wir hatten so viele Zuhauses auf dieser Reise.
Bis die Emmen in Kiew eintreffen, dauert es ein paar Tage und solange lenken wir uns mit Ausflügen ab. Die grüne Metrolinie 3 schleust uns in die Innenstadt. Ich stehe auf dem Maidan und versuche, mir die Menschen, die Stimmung und die blutigen Kämpfe aus dem Winter 2014 vorzustellen. Die Spuren sind verwischt. Heute scheint die Sonne auf ein Blumenbeet, in dem die Buchstaben I ♥ Kyiv aufgestellt sind. Am Springbrunnen laufen Jugendliche mit aufgeplüschten Tauben in der Hand umher, die sie Touristen für Kleingeld auf die Schulter setzen können.
Eines Nachmittags landen Micha und ich auf einem Volksfest auf den Wiesen außerhalb der Stadt. Fast alle Besucher haben Kleidung verziert mit traditionellen Mustern angezogen. Die Frauen und Mädchen tragen außerdem selbstgeflochtene Blumenkränze auf ihren Haaren – das Markenzeichen der Ukrainerin. Es duftet nach Sommer und ukrainischem Essen.
Uns gefällt Kiew. Und die Tage im Neubauviertel. Was uns nicht gefällt, ist die neuste Nachricht von unserem Bremer Spediteur, dass er die Motorräder nun leider doch nicht nach Kiew schaffen kann. Die Kisten mit den Emmen, die derzeit am Flughafen in Bangkok stehen, könnten von dort nur nach Frankfurt am Main geflogen werden. Ein Weiterflug nach Kiew sei unverschämt teuer und wegen einer Einstufung der Fracht als Gefahrengut außerdem zu kompliziert. Daher hatte der Spediteur vorgeschlagen, die Motorräder im LKW von Frankfurt nach Kiew zu bringen, damit wir die letzten Wochen unserer Reise auf den Emmen fortsetzen können. Nun lesen wir in seiner E-Mail, dass auch dieser Plan gescheitert ist, da ausländische Fahrzeuge nur in Anwesenheit des Halters über die ukrainische Grenze transportiert werden dürften. Schnaufend schmieden Micha und ich einen Plan C. Unsere Wahl fällt auf Rumänien – das liegt innerhalb der EU und dürfte für die Spedition machbar sein. Als diese der Idee zustimmt, steigen wir am 10. Juli in den Flieger nach Bukarest.
Wir sitzen fest in Bukarest
Etwa vier Tage. Dann könnte der LKW der Spedition in Bukarest sein, heißt es. Da wusste noch niemand, dass es zusätzliche Verzögerungen beim deutschen Zoll geben würde – unter anderem wegen der Motorradschlüssel, die erst noch aus Kambodscha nachgeschickt werden mussten.
Zum Glück ist Rumäniens Hauptstadt genauso freundlich und spannend, wie wir es uns vorgestellt haben. Sie hat viele Geschichten parat, so dass uns nie langweilig wird. In vielen Seitenstraßen regen marode Villen, Altbauperlen und zugewachsene Höfe die Fantasie an. In der 1930ern eiferte man hier Paris nach – aus dieser Zeit stammen viele der dekorativen Häuser und sogar eine Minivariante der Champs-Élysées mit Arc de Triumph. Da in Frankreich außerdem Paläste typisch waren, bezeichnen die Rumänen bis heute sämtliche größere Gebäude der Stadt als Palast: Post-Palast, Bank-Palast, Telekom-Palast… Bukarest besitzt dadurch mehr Paläste als jede andere Hauptstadt Europas. Viele Einwohner trainierten sich damals sogar einen französischen Akzent an, obwohl sie die Sprache gar nicht verstanden. Noch heute bedankt man sich in Bukarest mit „merci“.
Unübersehbar ist der gigantische Volkspalast, für den Nicolae Ceaușescu Anfang der 1980er fast die gesamte Altstadt plattmachen ließ. Hier bekommen wir schnell einen Eindruck vom Größenwahn des einstigen Diktators. Nach einem 90minütigen Rundgang im zweitgrößten Verwaltungsgebäude der Welt haben wir gerade mal vier Prozent besichtigt. Der Entwurf stammt übrigens von einer jungen Architektin, die damals gerade erst die Uni verlassen hatte. Sie überzeugte Ceaușescu im Architekturwettbewerb schlicht mit dem größten Maßstab unter den Ansichtsmodellen. Als der Bau in den 1990ern fertig wurde, war der Diktator längst hingerichtet. Der Erste, der vom Palastbalkon zum rumänischen Volk sprach, war… Michael Jackson. Der Megastar begrüßte bei seinem allerersten Konzert in Rumänien seine 70.000 Fans dann allerdings mit „Hello Budapest!“
Uns ereilte ein ähnlicher Schock. Der Spediteur verlangt jetzt zusätzliches Geld von uns, die durch die vierwöchige Irrfahrt der Fracht aufgelaufen seien. „Ansonsten könnt ihr Eure Motorräder bei mir in Bremen abholen!“ so seine Ansage. Die Pistole auf der Brust schmerzt. Mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung geben wir ihm das Geld. Als dann zwei Tage später der LKW mit den Motorrädern endlich in Bukarest eintrifft und die Emmen problemlos anspringen, sind wir so glücklich, dass unser Ärger im ersten Fahrtwind wie weggeblasen ist. Wir können unsere Reise als Emmenreiter fortsetzen. Und damit wir auch die letzten Kilometer ohne Hetze angehen können, haben wir die Heimkehr um zwei Wochen verschoben.
Emmenritt durch die Walachei und die Karpaten
Die Rumänen begegnen uns überall sehr herzlich und hilfsbereit. Ihre Sprache ist dem Italienischen ähnlich und das allein versprüht eine angenehme Stimmung. Mit einem guten Gefühl im Bauch verlassen wir die Hauptstadt und nehmen Anlauf auf die Straße in den Wolken, wie die Transfogarascher Hochstraße (Transfăgărășan) auch genannt wird. Sie ist nur vier Monate im Jahr passierbar und führt uns in himmlischen Kurven aus der Walachei nach Siebenbürgen. Mit europäischem Benzin im Tank knattern die MZ-Motorräder einwandfrei bis auf den höchsten Punkt der Strecke auf 2.042 Metern. Dort geht es durch einen langen Tunnel auf die andere Bergseite und an einer Autoschlange und einem See vorbei ins Tal. Im Sommer ist die Transfăgărășan ein beliebtes Ausflugsziel.
Unsere ausgewählte Reiseroute durch die Karpaten Rumäniens könnten nicht schöner sein. Die meisten Landstraßen sind besser als ihr Ruf und verträumt düsen wir zunächst durch die alten Dörfer von Siebenbürgen. Viele Orte sind hier noch unter deutschem Namen bekannt, wie das inmitten waldiger Hügel versteckte Sighisoara bzw. Schäßburg mit seinem mittelalterlichen Stadtkern. Einst lebten in Rumänien etwa 800.000 Deutsche, darunter Aussiedler wie die Siebenbürger Sachsen oder die Bukowinadeutschen.
In der Region Bukowina (Buchenland) im Nordosten des Landes ziehen wir bei Elena in einen kleinen Wohnwagen auf der Kleewiese ein. Elena war früher Französischlehrerin und bringt auf ihrem kleinen Gehöft in der Nähe eines der berühmten Moldauklöster Feriengäste unter. Ihre beiden Hunde, Katzen und dicken Hühner fühlen sich hier genauso wohl wie wir. Wenn Elena das Essen zubereitet, bindet sie sich ein weißes Kopftuch um.
Auf unserem Weg bis in die Ukrainischen Karpaten reisen wir weiter nach Nordwesten durch die Maramuresch-Region. In diesem urtümlichen Landesteil Rumäniens messen die Uhren nicht die Zeit, sondern die Ewigkeit, heißt es. Und tatsächlich reisen wir durch ein lebendiges Museum mit malerischen Heuwiesen, spitztürmigen Holzkirchen, meisterhaft geschnitzten Hoftoren und Bewohnern, die in lokaler Tracht gemeinsam durchs Dorf zur Kirche spazieren. „Ich liebe unsere Tradition“, sagt Mariuka. Nach ihrem Musikstudium in Bukarest ist sie in die Maramuresch zurückgekehrt. Gerade erklärt sie uns in knielangem Faltenrock, weißer Bluse und Tuch auf dem Kopf die berühmten Wandmalereien in der kleinen Holzkirche von Călineşti.
„Willkommen daheim, Emmenreiter!“
31. Juli 2017. In Sighetu Marmației, der einstigen Hauptstadt der Maramuresch, fahren wir über eine schmale Eisenbrücke über die Theiß zurück in die Ukraine. Wir haben die EU noch einmal verlassen, um gemeinsam den Ort zu besuchen, an dem Michas Vater zuletzt gelebt hat. Es ist ein schönes und trauriges Wiedersehen. Und es läutet unsere Heimkehr ein, obwohl wir noch etwa tausend Kilometer von Berlin entfernt sind. Spätestens mit der Einreise in die Slowakei und nach Tschechien haben wir dann endgültig fremde Welten verlassen und nehmen gedanklich Abschied von unserem Abenteurerdasein. Am 10. August fahren wir nahe Zittau in Regenklamotten am schwarz-rot-gold-gestreiften Grenzpfeiler entlang und machen am „Bundesrepublik Deutschland“-Schild ein letztes Selbstauslöserfoto. Da sind wir wieder – gesund und glücklich zurück aus 26 Ländern in Osteuropa und Asien, aus zumeist heißen und manchmal eisig kalten Regionen. Und um viele Erinnerungen und neue Freunde reicher. Wehmut empfinden wir (noch) nicht. Die Vorfreude auf unser Wiedersehen mit Familie, Freunden und Berlin überwiegt jetzt.
Noch ein allerletzter Stopp im grünen Spreewald, wo uns mehr Mücken auffressen wollen, als wir es je in Asien erlebt haben, und am 12. August 2017 rollen wir vormittags auf abgewetzten Reifen über Brandenburgs Landstraßen dem Finale entgegen. Das Wetter ist dasselbe wie bei der Abfahrt im April 2016. Im Sprühregen biegen wir dennoch gut gelaunt in die Straßen unseres Kiezes ein, steigen nass von den Motorrädern ab und lassen uns in die herzlichen Umarmungen fallen. Raum und Zeit sind völlig vergessen. Plötzlich scheint alles vertraut. Irgendwie zu vertraut. Nicht mal unsere schöne aufgeräumte Wohnung, die wir vor 16 Monaten verlassen haben und nach der Wiedersehensfeier in Motorradstiefeln betreten, kommt uns fremd vor. Na gut, unsere Gefühle können wir ja später noch ordnen. Genau wie die Post, die sich in unserer Abwesenheit von 484 Tagen angesammelt hat… [ENDE]
Die ganze Reise im Überblick – mit Route, allen Reisegeschichten und Bildern:
Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad
Vielen Dank an alle, die unsere Asienreise lesend begleitet und mitgefiebert haben. Wir hoffen, Ihr konntet mit uns in fremde Welten eintauchen und so vielleicht Eure eigene Welt anders betrachten.
Außerdem danken wir den vielen Menschen, die uns während der Reise begrüßt, geholfen, eingeladen, inspiriert und Freundschaft geschenkt haben.
Falls Ihr mithelfen möchtet, das schwierige und teils bedrohte Leben junger Menschen in ihrer Heimat zu verbessern, empfehlen wir eine Spende an ein familiäres Hilfsprojekt, das wir seit langem unterstützen und in vielerlei Hinsicht für besonders (effektiv) halten: Kinderhilfe Afghanistan.
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