Ukraine – eMMenreiter Reiseabenteuer auf alten MZ-Motorrädern Sat, 13 Jan 2018 17:44:37 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.0.2 /wp-content/uploads/2015/03/reise-551a6390v1_site_icon-32x32.png Ukraine – eMMenreiter 32 32 Durch die Walachei nachhause /rumaenien-walachei-ukraine/ Thu, 19 Oct 2017 06:49:46 +0000 /?page_id=15178 Brauchtum Ukraine © emmenreiter.de

Im Freiluftmuseum nahe Kiew: Brauchtum boomt in der Ukraine, 2017 © emmenreiter.de

Plan B: Kiew

3. Juli 2017. Die Bahnstrecke Moskau bis Kiew ist 756 Kilometer lang. Nach etwa 13 Stunden und einer Nacht im voll belegten Schlafwagen steigen wir morgens in der ukrainischen Hauptstadt aus dem Zug. Vor dem Bahnhof lauert schon die Taxifahrermeute. Wie auf einem Basar wird hier mit üblichen Tricks der Fahrpreis verhandelt. Als wir den Männern mit riesigen Packtaschen entgegen staksen, wittern sie leichte Beute. Aber wir beherrschen ihr Spiel. Als beide Seiten zufrieden sind, geht es über den Dnepr in den Südosten der Stadt – nach Osokorki. Wir haben gute Laune. Die Sonne blitzt im Fluss.
Osokorki ist ein Labyrinth aus neueren Hochhäusern, mit Spiel- und Parkplätzen dazwischen. In den untersten Etagen der Wohnblöcke gibt es kleine, praktische Geschäfte – Apotheken, Büros, Kosmetikstuben, Handyshops… Das Stadtviertel erscheint lebendig und freundlich. In der Nähe der Metrostation verkaufen Leute verlockendes Obst und Gemüse: Pfirsiche, Kirschen, Himbeeren, Blaubeeren, Tomaten, Gurken, kleine Kräuterbündel. Die Schrebergärten liegen gleich um die Ecke und die Verkaufspreise sind unglaublich niedrig. Die Währung des Landes, Hrywnja, hat seit einigen Jahren dramatisch an Wert verloren.
Die Ferienwohnung, die wir übers Internet gemietet haben, liegt im 18. Stock. Wir stehen jetzt mit dem Gepäck vor dem Blockaufgang Nummer 6 und die Vormittagssonne scheint grell auf das weiße Hochhaus. Meine zugekniffenen Augen gucken an der weiten Fassade entlang nach oben. Hinter uns funkelt im Schatten der Wohnblöcke die goldene Kuppel eines Kirchenneubaus. Der Eingang ins Haus wird durch eine ältere Dame überwacht, die drinnen in einer gemütlichen Pförtnerstube sitzt. Hinter ihr steht ein altmodisches Schlafsofa. Auch sie hat ein paar Becher Himbeeren zum Verkauf ausgestellt. Oben angekommen verwandeln wir die sonnige, fremde Wohnung mit Balkon im Handumdrehen in unser neues Zuhause. Wie oft haben wir das bis hierher eigentlich schon gemacht? Wir hatten so viele Zuhauses auf dieser Reise.
Bis die Emmen in Kiew eintreffen, dauert es ein paar Tage und solange lenken wir uns mit Ausflügen ab. Die grüne Metrolinie 3 schleust uns in die Innenstadt. Ich stehe auf dem Maidan und versuche, mir die Menschen, die Stimmung und die blutigen Kämpfe aus dem Winter 2014 vorzustellen. Die Spuren sind verwischt. Heute scheint die Sonne auf ein Blumenbeet, in dem die Buchstaben I ♥ Kyiv aufgestellt sind. Am Springbrunnen laufen Jugendliche mit aufgeplüschten Tauben in der Hand umher, die sie Touristen für Kleingeld auf die Schulter setzen können.
Eines Nachmittags landen Micha und ich auf einem Volksfest auf den Wiesen außerhalb der Stadt. Fast alle Besucher haben Kleidung verziert mit traditionellen Mustern angezogen. Die Frauen und Mädchen tragen außerdem selbstgeflochtene Blumenkränze auf ihren Haaren – das Markenzeichen der Ukrainerin. Es duftet nach Sommer und ukrainischem Essen.

Uns gefällt Kiew. Und die Tage im Neubauviertel. Was uns nicht gefällt, ist die neuste Nachricht von unserem Bremer Spediteur, dass er die Motorräder nun leider doch nicht nach Kiew schaffen kann. Die Kisten mit den Emmen, die derzeit am Flughafen in Bangkok stehen, könnten von dort nur nach Frankfurt am Main geflogen werden. Ein Weiterflug nach Kiew sei unverschämt teuer und wegen einer Einstufung der Fracht als Gefahrengut außerdem zu kompliziert. Daher hatte der Spediteur vorgeschlagen, die Motorräder im LKW von Frankfurt nach Kiew zu bringen, damit wir die letzten Wochen unserer Reise auf den Emmen fortsetzen können. Nun lesen wir in seiner E-Mail, dass auch dieser Plan gescheitert ist, da ausländische Fahrzeuge nur in Anwesenheit des Halters über die ukrainische Grenze transportiert werden dürften. Schnaufend schmieden Micha und ich einen Plan C. Unsere Wahl fällt auf Rumänien – das liegt innerhalb der EU und dürfte für die Spedition machbar sein. Als diese der Idee zustimmt, steigen wir am 10. Juli in den Flieger nach Bukarest.

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Wir sitzen fest in Bukarest

Etwa vier Tage. Dann könnte der LKW der Spedition in Bukarest sein, heißt es. Da wusste noch niemand, dass es zusätzliche Verzögerungen beim deutschen Zoll geben würde – unter anderem wegen der Motorradschlüssel, die erst noch aus Kambodscha nachgeschickt werden mussten.
Zum Glück ist Rumäniens Hauptstadt genauso freundlich und spannend, wie wir es uns vorgestellt haben. Sie hat viele Geschichten parat, so dass uns nie langweilig wird. In vielen Seitenstraßen regen marode Villen, Altbauperlen und zugewachsene Höfe die Fantasie an. In der 1930ern eiferte man hier Paris nach – aus dieser Zeit stammen viele der dekorativen Häuser und sogar eine Minivariante der Champs-Élysées mit Arc de Triumph. Da in Frankreich außerdem Paläste typisch waren, bezeichnen die Rumänen bis heute sämtliche größere Gebäude der Stadt als Palast: Post-Palast, Bank-Palast, Telekom-Palast… Bukarest besitzt dadurch mehr Paläste als jede andere Hauptstadt Europas. Viele Einwohner trainierten sich damals sogar einen französischen Akzent an, obwohl sie die Sprache gar nicht verstanden. Noch heute bedankt man sich in Bukarest mit „merci“.
Unübersehbar ist der
gigantische Volkspalast, für den Nicolae Ceaușescu Anfang der 1980er fast die gesamte Altstadt plattmachen ließ. Hier bekommen wir schnell einen Eindruck vom Größenwahn des einstigen Diktators. Nach einem 90minütigen Rundgang im zweitgrößten Verwaltungsgebäude der Welt haben wir gerade mal vier Prozent besichtigt. Der Entwurf stammt übrigens von einer jungen Architektin, die damals gerade erst die Uni verlassen hatte. Sie überzeugte Ceaușescu im Architekturwettbewerb schlicht mit dem größten Maßstab unter den Ansichtsmodellen. Als der Bau in den 1990ern fertig wurde, war der Diktator längst hingerichtet. Der Erste, der vom Palastbalkon zum rumänischen Volk sprach, war… Michael Jackson. Der Megastar begrüßte bei seinem allerersten Konzert in Rumänien seine 70.000 Fans dann allerdings mit „Hello Budapest!“
Uns ereilte ein ähnlicher Schock. Der Spediteur verlangt jetzt zusätzliches Geld von uns, die durch die vierwöchige Irrfahrt der Fracht aufgelaufen seien.
„Ansonsten könnt ihr Eure Motorräder bei mir in Bremen abholen!“ so seine Ansage. Die Pistole auf der Brust schmerzt. Mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung geben wir ihm das Geld. Als dann zwei Tage später der LKW mit den Motorrädern endlich in Bukarest eintrifft und die Emmen problemlos anspringen, sind wir so glücklich, dass unser Ärger im ersten Fahrtwind wie weggeblasen ist. Wir können unsere Reise als Emmenreiter fortsetzen. Und damit wir auch die letzten Kilometer ohne Hetze angehen können, haben wir die Heimkehr um zwei Wochen verschoben.

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Emmenritt durch die Walachei und die Karpaten

Die Rumänen begegnen uns überall sehr herzlich und hilfsbereit. Ihre Sprache ist dem Italienischen ähnlich und das allein versprüht eine angenehme Stimmung. Mit einem guten Gefühl im Bauch verlassen wir die Hauptstadt und nehmen Anlauf auf die Straße in den Wolken, wie die Transfogarascher Hochstraße (Transfăgărășan) auch genannt wird. Sie ist nur vier Monate im Jahr passierbar und führt uns in himmlischen Kurven aus der Walachei nach Siebenbürgen. Mit europäischem Benzin im Tank knattern die MZ-Motorräder einwandfrei bis auf den höchsten Punkt der Strecke auf 2.042 Metern. Dort geht es durch einen langen Tunnel auf die andere Bergseite und an einer Autoschlange und einem See vorbei ins Tal. Im Sommer ist die Transfăgărășan ein beliebtes Ausflugsziel.
Unsere ausgewählte Reiseroute durch die Karpaten Rumäniens könnten nicht schöner sein. Die meisten Landstraßen sind besser als ihr Ruf und verträumt düsen wir zunächst durch die alten Dörfer von Siebenbürgen.
Viele Orte sind hier noch unter deutschem Namen bekannt, wie das inmitten waldiger Hügel versteckte Sighisoara bzw. Schäßburg mit seinem mittelalterlichen Stadtkern. Einst lebten in Rumänien etwa 800.000 Deutsche, darunter Aussiedler wie die Siebenbürger Sachsen oder die Bukowinadeutschen.
In der Region Bukowina (Buchenland) im Nordosten des Landes ziehen wir bei Elena in einen kleinen Wohnwagen auf der Kleewiese ein. Elena war früher Französischlehrerin und bringt auf ihrem kleinen Gehöft in der Nähe eines der berühmten Moldauklöster Feriengäste unter. Ihre beiden Hunde, Katzen und dicken Hühner fühlen sich hier genauso wohl wie wir. Wenn Elena das Essen zubereitet, bindet sie sich ein weißes Kopftuch um.
Auf unserem Weg bis in die Ukrainischen Karpaten reisen wir weiter nach Nordwesten durch die
Maramuresch-Region. In diesem urtümlichen Landesteil Rumäniens messen die Uhren nicht die Zeit, sondern die Ewigkeit, heißt es. Und tatsächlich reisen wir durch ein lebendiges Museum mit malerischen Heuwiesen, spitztürmigen Holzkirchen, meisterhaft geschnitzten Hoftoren und Bewohnern, die in lokaler Tracht gemeinsam durchs Dorf zur Kirche spazieren. „Ich liebe unsere Tradition“, sagt Mariuka. Nach ihrem Musikstudium in Bukarest ist sie in die Maramuresch zurückgekehrt. Gerade erklärt sie uns in knielangem Faltenrock, weißer Bluse und Tuch auf dem Kopf die berühmten Wandmalereien in der kleinen Holzkirche von Călineşti.

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„Willkommen daheim, Emmenreiter!“

31. Juli 2017. In Sighetu Marmației, der einstigen Hauptstadt der Maramuresch, fahren wir über eine schmale Eisenbrücke über die Theiß zurück in die Ukraine. Wir haben die EU noch einmal verlassen, um gemeinsam den Ort zu besuchen, an dem Michas Vater zuletzt gelebt hat. Es ist ein schönes und trauriges Wiedersehen. Und es läutet unsere Heimkehr ein, obwohl wir noch etwa tausend Kilometer von Berlin entfernt sind. Spätestens mit der Einreise in die Slowakei und nach Tschechien haben wir dann endgültig fremde Welten verlassen und nehmen gedanklich Abschied von unserem Abenteurerdasein. Am 10. August fahren wir nahe Zittau in Regenklamotten am schwarz-rot-gold-gestreiften Grenzpfeiler entlang und machen am „Bundesrepublik Deutschland“-Schild ein letztes Selbstauslöserfoto. Da sind wir wieder – gesund und glücklich zurück aus 26 Ländern in Osteuropa und Asien, aus zumeist heißen und manchmal eisig kalten Regionen. Und um viele Erinnerungen und neue Freunde reicher. Wehmut empfinden wir (noch) nicht. Die Vorfreude auf unser Wiedersehen mit Familie, Freunden und Berlin überwiegt jetzt.
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Noch ein allerletzter Stopp im grünen Spreewald, wo uns mehr Mücken auffressen wollen, als wir es je in Asien erlebt haben, und am 12. August 2017 rollen wir vormittags auf abgewetzten Reifen über Brandenburgs Landstraßen dem Finale entgegen. Das Wetter ist dasselbe wie bei der Abfahrt im April 2016. Im Sprühregen biegen wir dennoch gut gelaunt in die Straßen unseres Kiezes ein, steigen nass von den Motorrädern ab und lassen uns in die herzlichen Umarmungen fallen. Raum und Zeit sind völlig vergessen. Plötzlich scheint alles vertraut. Irgendwie zu vertraut. Nicht mal unsere schöne aufgeräumte Wohnung, die wir vor 16 Monaten verlassen haben und nach der Wiedersehensfeier in Motorradstiefeln betreten, kommt uns fremd vor. Na gut, unsere Gefühle können wir ja später noch ordnen. Genau wie die Post, die sich in unserer Abwesenheit von 484 Tagen angesammelt hat…  [ENDE]

< Vorherige Reisegeschichte

Die ganze Reise im Überblick – mit Route, allen Reisegeschichten und Bildern:
Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad

 

Tempeltänzerin © emmenreiter.de

Vielen Dank an alle, die unsere Asienreise lesend begleitet und mitgefiebert haben. Wir hoffen, Ihr konntet mit uns in fremde Welten eintauchen und so vielleicht Eure eigene Welt anders betrachten.

Außerdem danken wir den vielen Menschen, die uns während der Reise begrüßt, geholfen, eingeladen, inspiriert und Freundschaft geschenkt haben.

Falls Ihr mithelfen möchtet, das schwierige und teils bedrohte Leben junger Menschen in ihrer Heimat zu verbessern, empfehlen wir eine Spende an ein familiäres Hilfsprojekt, das wir seit langem unterstützen und in vielerlei Hinsicht für besonders (effektiv) halten: Kinderhilfe Afghanistan.

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Ukraine: Strastwuitje, Röckchen und Kompott /ukraine-karpaten-2009/ /ukraine-karpaten-2009/#comments Sun, 19 Jul 2009 19:20:35 +0000 /?page_id=2805 Ukraine

Willkommen in der Ukraine © emmenreiter.de

Liebe Ukraine!

Strastwuitje, liebe Ukraine! Du hast es geschafft, die letzten Tage unserer Reise tatsächlich zu versüßen. Und das nicht nur mit deinem erfischenden Erdbeerkompott.
Als wir am 30. Juni vom rumänischen Donaudelta kommend das Eingangsschild der ukrainischen Kleinstadt Ismail passieren, wollen wir nur kurz tanken und dann irgendwo an einem der Seen in der Nähe unser Zelt aufschlagen. Wir sind ganz schön geschlaucht und die große Werbetafel des VIP Hotels ist auf einmal sehr verlockend. „Lass uns wenigstens mal gucken!” Und schon sind wir drin. Die Chefin des kleinen Hauses empfängt uns wie eine Mama: „Trinkt erst mal einen Kaffee, poschalsta!” Sie spricht Ukrainisch oder Russisch – irgendwas können wir immer raushören und verstehen. Mit jedem Wort Russisch, das wir antworten, ernten wir ein Strahlen auf ihrem Gesicht. Die Zimmer des gemütlichen Hotels sind die modernsten und gleichzeitig häuslichsten auf der ganzen Reise. Dafür knappen wir gerne dreißig Euro von dem noch übrig gebliebenen Geld ab. Zum Abendbrot im Garten serviert uns „Mama” erntefrische Gurken und Pfirsiche aus ihrem Garten. Unten im kleinen Innenhof lernen wir ein Team von OSZE kennen, die ebenfalls gerade angekommen sind. Vier Ukrainer und zwei Bayern, die tagsüber einheimischen Grenzbeamten Seminare über Diplomatie und Sicherheit geben. Eine sehr unterhaltsame und entspannte Runde, die wir nicht nur einmal treffen. Ich komme den nächsten Tag über kaum aus dem Zimmer. Irgendwas hat mich eingefangen, aber das kann die Laune nicht trüben. Wir bleiben einfach noch eine Nacht länger in Ismail, bevor es in die Hafenstadt Odessa geht.

Odessa – ein Sommerkleid

Kein Wunder, das berühmte Dichter und Künstler, die nach Odessa kamen, sich in diese Stadt verliebten. Odessa ist einfach nur inspirierend, schön und angenehm – wie ein Sommerkleid und die frische Brise vom Schwarzen Meer. In den antiken Straßen mit ihren maroden und renovierten Prachtaltbauten, auf den schönen Plätzen und in den kleinen Parks der Stadtmitte scheint es, als wären wir auf einem Fest gelandet. Die Frauen und Mädchen übertrumpfen sich in der Auswahl ihrer auffallenden Kleider und bunten High Heels. Die Odessiten strahlen eine ansteckende Fröhlichkeit und Gelassenheit aus. Die Hauptstadt des Lachens, sagt man.
Wir setzen uns in ein nettes Straßencafé auf die Deribasivska. Die berühmte Fußgängermeile ist das Herz der Stadt und Laufsteg ukrainischer Modepüppchen. Von hier aus können wir beide bei einem frischen Kompott wunderbar beobachten, hinter welchen außergewöhnlichen Varianten von Stoff die Damen einen Teil ihrer wohlgeformten Körper verstecken.
Wir wohnen im Stadtteil Luzanovka – eine Viertelstunde Fahrt mit dem Minibus 146, 170, 240, 242 oder 270 vom Zentrum entfernt – direkt am Meeresufer. Hier sind wir durch Zufall in einer kleinen Container-Feriensiedlung gelandet, in der außer uns nur ukrainische Familien Strandurlaub machen. Ferien im Container – gar nicht mal so schlecht. Nach dem morgendlichen Badengehen und einem Campingfrühstück auf der Holzbretterterrasse machen wir von hier aus unsere täglichen Ausflüge „in die Stadt”. Streifen dort mehrmals durch die schattigen Straßen, um eines der schönsten Opernhäuser der Welt herum und über den grünen Primorsky-Boulevard zur geschichtsträchtigen Potemkinschen Treppe. Odessas Innenstadt ist an vielen Stellen liebevoll restauriert und wir können nicht oft genug dort spazieren gehen.
Das zweihundert Jahre alte Opernhaus ist leider saisonbedingt geschlossen. Wir können uns also nicht selbst davon überzeugen, ob dank der einzigartigen Akustik des Gebäudes ein Flüstern auf der Bühne wirklich bis zur letzten Zuschauerreihe zu verstehen ist. Dafür geben vier singende, alte Damen mit knallrot geschminktem Mund und hochgesteckten Haaren ein spontanes Konzert auf der Parkbank.
Am Samstag treffen wir Sergej vom OSZE-Team wieder, das gerade in Odessa ihre Seminarreihe fortsetzt. Sergej, IT-Profi und Musiker aus Kiew, zeigt uns zusammen mit seiner Freundin Tanja einen Nachmittag lang die interessantesten Plätze der Stadt. Wir schlendern mit ihnen zum Yachthafen und über die schwingende Schwiegermutter-Brücke, an denen frisch Verheiratete Schlösser als Zeichen ewiger Liebe aufhängen. Wir werfen ein paar Blicke in die goldverzierten, orthodoxen Kirchen und in die Innenhöfe der Altbauten mit ihren stuckverzierten Fassaden. Zwischendurch kosten wir originalen Borschtsch nach Hausfrauenart – überall in Odessa gibt es neue, hübsche Restaurants und Cafés, in denen sich Touristen und ukrainische Besserverdiener einen Espresso nach dem Essen gönnen.
Am 8. Juli stößt Micha bei einem Streifzug am Hafen in der Nähe der Potemkinschen Treppe auf eine Stechschrittparade junger Burschen und Mädchen in Matrosenuniform. Wir vermuten, dass sie der Besatzung des Panzerkreuzers Potemkin gedenken. Viele der Potemkin-Matrosen wurden nämlich am 8. Juli 1905, also zwölf Tage nach Beginn der berühmten Schiffsmeuterei, der russischen Regierung übergeben mit der Folge von Todesstrafe und Zwangsarbeit.
Eines Nachmittags schleichen wir durch die Halle und Flure des wohl spannendsten Hotels Odessas: das alte, feine Londonskaja. Das Personal hält uns doch tatsächlich für Gäste trotz unserer bescheidenen Reisegarderobe. Wir lassen sie in dem Glauben und genießen ihre höfliche Aufmerksamkeit. Vor fast jedem Zimmer hängt das Porträt eines der berühmten Stammgäste, die hier seit Ewigkeiten nächtigten – Schriftsteller, Künstler, Premierminister und Präsidenten. Eine schöne Bleibe haben sich unsere beiden Bayern Heinz und Peter da ausgesucht. Die wohnen hier nämlich solange bis ihre Seminarreihe beendet ist. Wir verabreden uns mit den beiden abends zu einem echten Hefeweizen in einer Brauereigaststätte, die ihre komplette Brauanlage und die Braukunst aus München importiert hat. Das Preußen-Bayern-Quartett versteht sich wirklich prächtig und vor so viel guter Laune und Leichtigkeit denken wir fast gar nicht mehr daran, dass unser Abenteuer fast zu Ende ist. Nach einer Woche im Container verlassen wir Odessa. Hier könnten wir noch vieeel länger rumlungern, aber unser Heimweg über die Karpaten soll nicht in Stress ausarten. [See image gallery at www.emmenreiter.de]

In die Karpaten: Von wegen Osteuropa

Über kleine Straßen geht es auf drei Etappen in die ukrainischen Karpaten – zur geografischen Mitte Europas. Die markierten Nebenstraßen auf unserer Ukraine-Karte entpuppen sich als vielfältig: breite Schotterstrecken, ausgefahrene Feldsteinstraßen, dunkle Schlammlochpfade, gut befahrbare Feldwege und hier und da Asphalt. Da es am Tag unserer Abfahrt aus Odessa kräftige Regenschauer gibt, macht das manche Passagen ziemlich modderig. Viele der niedlichen Bauernhäuser an den Straßen sind in kräftigem Grün und Blau gestrichen – manchmal liebevoll verziert mit weißen Elementen an den Kanten. Jedes noch so kleine Dorf hat eine neu restaurierte ukrainisch-orthodoxe Kirche, deren goldenes oder silbernes Dach schon von Weiten glitzert. Die Emmen scheuchen die freilaufenden Enten, Gänse und Kühe auf. Die kleinen Städte, die wir durchfahren, präsentieren sich mit riesigen Eingangsschildern in kommunistischem Design.
In den kleinen Lebensmittelläden der Ukraine, dem sog. Magazin, finden wir alle Waren des täglichen Bedarfs: grobes, graues Toilettenpapier, Brot, Butter, Eier, Marmelade und Mineralnaja Woda. Hinter der Theke bedienen uns geschminkte Damen in bunten Kittelschürzen. Sobald wir den Laden betreten, versucht jede der überraschten Verkäuferinnen die jeweils andere vorzuschieben, um die Ausländer zu bedienen. Während unseres Einkaufs mit Zeigefinger und Vokabelbrocken tauen sie dann auf und winken uns zum Abschied aus der Ladentür hinterher.
Zum Übernachten im Zelt suchen wir uns versteckte Plätzchen in Flussnähe. Irgendwo bei Storozhynets müssen wir einen ganzen Regentag lang in unserem trockenen „Käferchen” hocken. Danach sind unsere Körper verspannter denn je und wir freuen uns schon auf ein richtiges Bett in den Karpaten.

47°56′ 3” N, 24° 11′ 30” O

In Rachiv – dem Tor in die Karpaten – finden wir, was wir suchen: ein frisch bezogenes, weiches Bett und eine lange, heiße Dusche im Holzgästehaus von Gastvater Vasil, seiner Frau, Hündin Tucja und dem schwarzen Katerchen, der sich abends zu uns in die Kiste schleicht. Vasil zeigt uns auf seiner Wanderkarte, wo wir einen Tag lang durch die saftiggrünen Berge laufen können. Wir folgen dem Schotterpfad – einmal zu Fuß, am nächsten Tag auf der MZ. Vielleicht war das die letzte Enduroetappe, die die Emme in Eurasien meistern musste. An einer Mineralwasserquelle treffen wir einen Alten, der gerade aus den Pilzen kommt. Mit unseren rudimentären Russischkenntnissen können wir wenigstens einen Smalltalk mit den liebenswerten Ukrainern, die wir überall antreffen, halten. Er schenkt uns Pfifferlinge und einen riesigen Steinpilz, den wir abends zusammen mit der Gastmutti in die Pfanne werfen. Ein bisschen Smetana und frische Kräuter aus dem Garten dazu – hmmm. Bei unserer Wanderung durch die Karpaten kommen wir uns vor wie im Heidi-Film. Gleich kommt Ziegenpeter über den Hügel gerannt. Die Ziegenglocken hören wir schon. Ein paar dunkle, kleine Holzhütten stehen auf den Bergen verstreut – umringt von Sommerwiesen, auf denen Männer und Frauen in der Sonnenhitze das Heu wenden. Unten im Tal sitzen alte Bauern oder deren Enkelkinder auf Hockern an der Hauptstraße – die Trasse – und bieten Vorbeifahrern gepflückte Blaubeeren und Pilze an. Überall wird gerade frisches Obst und Gemüse aus dem Garten verkauft.
Zwölf Kilometer von Rachiv entfernt halten wir am (ukrainischen) Mittelpunkt des Kontinents Europas an. Der wissenschaftlich bestätigte Messpunkt von 1887 liegt bei 47°56′ 3” N, 24° 11′ 30” O. Wie wir später herausfinden, beanspruchen heute auch andere Orte diesen Titel für sich. Der Mittelpunkt der Europäischen Union liegt übrigens in Deutschland – und zwar im hessischen Gelnhausen.
Bevor wir uns aus der unschön verbauten, aber dennoch netten Kleinstadt an der Theiß verabschieden, in der wir immerhin drei Tage verweilt haben, zieht Micha aufs Vorderrad von meiner MZ endlich den letzten der insgesamt vier Ersatzreifen auf, der seit vierzehn Monaten hinten angeschnallt mit uns durch Eurasien reist. Hündin Tucja liegt daneben und beobachtet alles. Sobald wir die Emmen zur Weiterreise ankicken, bellt und fletscht sie wie wild ihre Zähne, bis wir aus ihrer Sichtweite verschwunden sind.

Reise-Abenteuer: Von der Haustür zum Himalaja und zurück
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