{"id":2796,"date":"2009-06-23T21:12:45","date_gmt":"2009-06-23T19:12:45","guid":{"rendered":"http:\/\/www.emmenreiter.de\/?page_id=2796"},"modified":"2016-12-16T07:06:39","modified_gmt":"2016-12-16T05:06:39","slug":"tuerkei-kurden-ostanatolien","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/tuerkei-kurden-ostanatolien\/","title":{"rendered":"Wilde T\u00fcrkei: Zu Gast bei den Kurden"},"content":{"rendered":"
Zu Gast in Ostanatolien, 2009 \u00a9 emmenreiter.de<\/p><\/div>\n
12. Juni. Die Iranvisa enden heute auf den Tag genau. W\u00e4hrend die Iraner zur Wahlurne rennen, machen wir den Schritt ins muslimische Nachbarland. Der Grenz\u00fcbergang in die T\u00fcrkei geht auf beiden Seiten z\u00fcgig vonstatten. Einziger Unterschied ist, dass der nette Helfer auf t\u00fcrkischer Seite, der uns im (Vordr\u00e4ngel-)Spurt durch die n\u00f6tigen Kontrollstationen schleppt, im Gegensatz zu seinem iranischen Pendant am Ende Bakschisch verlangt. Ein F\u00fcnf-Dollar-Schein muss ihm reichen.
\nIch stopfe mein Kopftuch in den Tankrucksack. Die beiden blondierten Damen im t\u00fcrkischen Zollh\u00e4uschen hatten auch keins auf. Jetzt sind es nur noch f\u00fcnfunddrei\u00dfig Kilometer breite und leere Landstra\u00dfe, dann erreichen wir den ersten Ort hinter der t\u00fcrkischen Grenze: die kurdische Kleinstadt Dogubayazit auf etwa 1.600 Metern \u00fcber dem Meeresspiegel. Die weite Graslandschaft ist sogar noch herrlicher als im Nordiran. Der Gipfel des nah gelegenen und verschneiten Ararat, der h\u00f6chste Berg der T\u00fcrkei, l\u00e4sst sich heute hinter der Wolkendecke nur erahnen. Die Gegend im \u00e4u\u00dfersten Osten der T\u00fcrkei ist voller Milit\u00e4rst\u00fctzpunkte und Kasernen, die sich wenigstens farblich in die Umwelt einf\u00fcgen. Auch in Dogubayazit.
\nZwei Kilometer von der Stadt entfernt, in der es nicht immer friedlich zugeht, f\u00fchren der Holl\u00e4nder Bertil und der Kurde Mecit \u2013 beides symphatische M\u00e4nner gestandenen Alters \u2013 seit f\u00fcnf Jahren einen kleinen Campingplatz mit den obligatorischen Picknickecken f\u00fcr die Einheimischen: Lale Zar \u2013 zu deutsch: Tulpengarten. Na klar, denken wir. Tulpen und Holland \u2013 das passt. Aber Mecit lehrt uns, dass Tulpen urspr\u00fcnglich nicht aus Holland, sondern aus der T\u00fcrkei stammen. Wir schlagen das Zelt f\u00fcr vier Tage auf der kleinen Wiese auf. Ein friedlicher Platz am Fu\u00dfe des Ararat. Au\u00dfer uns steht an den ersten beiden Tagen nur noch ein weiteres Zelt hier: Ein holl\u00e4ndisches P\u00e4rchen, das in ihrer zweiundzwanzig Jahre alten Ente bis nach Ostanatolien gerollt ist. Die gleichaltrigen Emmen fangen an zu flirten.
\nOben auf einem nicht weit entfernten Klippenabhang hinterm Zeltplatz thront die restaurierte Ruine des Ishac Pasa Palastes. Von dort haben wir eine super Aussicht auf die Umgebung und die Stadt. Im Zentrum von Dogubayazit gehen wir seit Ewigkeiten mal wieder in einen richtigen Supermarkt einkaufen. Als wir durch den Eingang kommen, nehmen wir erstaunt einen bekannten und wohltuenden Duft wahr: Es riecht nach Westen! Wie im Intershop. Jeder Ossi unter den Lesern wird sofort verstehen, was gemeint ist. Die riesige S\u00fc\u00dfigkeiten- und Waschmittelabteilung entfalten ihre Ger\u00fcche, die unsere Nasen beim Einkauf in den kleinen, verstaubten Tante-Emma-L\u00e4den der anderen L\u00e4nder schon wieder vergessen hatten. Sofort \u00fcberkommt uns ein Kaufrauschgef\u00fchl, den die Vernunft aber noch stoppen kann. Ansonsten staunen wir nicht schlecht, wie viele teure Autos \u00fcber die schlechten Stra\u00dfen des Grenzortes fahren. Trotz achtzig Prozent Arbeitslosenquote. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Egal. Die alten M\u00e4nner mit ihren Schnauzb\u00e4rten, Schieberm\u00fctzen und dickstoffigen Jackets und alle anderen Menschen in Dogubayazit sind eine freundliche und h\u00f6fliche Gesellschaft. Wir f\u00fchlen uns hier sofort wohl und herzlich willkommen. Apropos Schnauzbart: Am t\u00fcrkischen Schnauzbart soll die politische Einstellung seines Tr\u00e4gers erkennbar sein. Deshalb d\u00fcrfen Beamte in der T\u00fcrkei nur eine bestimmte Bartl\u00e4nge tragen und Studenten sogar gar keinen.
\nMecit, dem das Leben tiefe Falten in sein braun gebranntes Gesicht gezeichnet hat, spielt abends auf dem Zeltplatz auf seiner traditionellen Gitarre kurdische Lieder und singt dazu mit seiner charismatischen, kratzigen Stimme. Damit schenkt er uns ein kleines St\u00fcck seiner alten kurdischen Kultur. \n
In Ostanatolien ist die T\u00fcrkei noch wild und voller Abenteuer, sagt man. Wir fahren auf Michas Emme trotz des verregneten Tages durch die kurdischen D\u00f6rfer. Wir sehen kleine, von der Zeit gezeichnete Feldsteinh\u00e4user. Von den braunerdigen H\u00f6fen treiben die jungen S\u00f6hne schmutzige Schafherden auf die umliegenden Weiden. Auf den Feldsteinmauern entlang der moddrigen Dorfstra\u00dfen stapelt der Schafmist als Briketts zum Trocknen. Wir gelangen an den Fischersee f\u00fcnfzig Kilometer von Dogubayazit entfernt. Die Gewitterschauer der Berglandschaft k\u00f6nnen uns in den Regensachen nichts anhaben. Im Gegenteil. Wir genie\u00dfen die Stimmung. Irgendwann am See gelangen wir in ein kleines Dorf: Bazirhan. Die Kinder laufen in Gummistiefeln umher und beobachten sch\u00fcchtern unsere Ankunft. Die M\u00e4nner aus dem Dorf kommen sofort n\u00e4her, um die Fremden mit Handschlag zu begr\u00fc\u00dfen. Wir kennen kein einziges kurdisches Wort, aber wir verstehen die Einladung zum Tschai. In einem einfachen Haus sitzen wir kurz danach mit jungen und alten M\u00e4nnern der Familie auf dem Teppichboden und trinken den starken Tee, den die junge und h\u00fcbsche Ehefrau serviert. Respektierter Mittelpunkt ist ganz eindeutig der Gro\u00dfvater, der Micha l\u00e4chelnd die Hand reicht.
\nWir zeigen der neugierigen Runde die bisherige MZ-Reiseroute auf der kleinen Weltkarte. Das kommt immer gut an. Als wir Abschied nehmen wollen, werden wir gebeten, noch zum Essen zu bleiben. Solange wir den lecker zubereiteten Kartoffeln-Paprika-Tomaten-Mix genie\u00dfen, sitzen die Frauen der Familie wie es Tradition ist gemeinsam au\u00dferhalb der Runde, bis die M\u00e4nner fertig sind. Nur Suse darf sich wie immer zu den Herren dazugesellen. Nach dem Besuch bei diesen netten Leuten fahren wir weiter zu den hei\u00dfen Quellen. In einem Becken, das wir ganz privat nutzen k\u00f6nnen, heizen wir wie Gott uns schuf im schwefelhaltigen Wasser die steifen Muskeln und Glieder durch \u2013 und das unter pl\u00f6tzlich strahlend blauem Himmel und bei Sonnenschein. Als wir zum Campingplatz zur\u00fcckkehren, begr\u00fc\u00dfen wir neue Zeltnachbarn: zwei Hamburger auf ihren Enduros und ein Motorradp\u00e4rchen aus K\u00f6ln. Zum ersten Mal w\u00e4hrend unseres MZ-Abenteuers sitzen wir in einer Biker-Runde zusammen und finden es sch\u00f6n, wieder original Hamburger Slang zu h\u00f6ren.<\/p>\n
16. Juni. Wir sch\u00fctteln Mercit und Bertil die Hand, ziehen die Motorradhandschuhe \u00fcber und kicken an. Dicht am gro\u00dfen Ararat vorbei \u2013 der vor einem Jahr zwei deutschen Bergsteigern durch die PKK zum Verh\u00e4ngnis wurde \u2013 knattern wir in die Stadt Kars. Wir haben geh\u00f6rt, dass man dort problemlos mit den Motorr\u00e4dern im Zug bis nach Istanbul fahren kann. Leider ist die Reisekasse fast leer und wir sparen viel Geld, wenn wir die relativ teure T\u00fcrkei diesmal auf der Schiene bereisen. Zugfahren ist eine sch\u00f6ne Abwechslung und die siebenunddrei\u00dfig Stunden im sog. Dogu Ekspresi eine 1.435-Kilometer-Strecke mit bester Aussicht. Reise-Abenteuer: Von der Haust\u00fcr zum Himalaja und zur\u00fcck Im Tulpengarten von Dogubayazit 12. Juni. Die Iranvisa enden heute auf den Tag genau. W\u00e4hrend die Iraner zur Wahlurne rennen, machen wir den Schritt ins muslimische Nachbarland. Der Grenz\u00fcbergang in die T\u00fcrkei geht auf beiden Seiten z\u00fcgig vonstatten. Einziger Unterschied ist, dass der nette Helfer auf t\u00fcrkischer Seite, der uns im (Vordr\u00e4ngel-)Spurt durch die n\u00f6tigen…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":6695,"parent":0,"menu_order":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","template":"","meta":{"ngg_post_thumbnail":0,"_links_to":"","_links_to_target":""},"tags":[375],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/2796"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2796"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/2796\/revisions"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/6695"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2796"}],"wp:term":[{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2796"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}
\nAls wir in Kars ankommen, fahren wir sofort zum Bahnhof, um die reservierten Schlafwagentickets abzuholen. Am Telefon vor ein paar Tagen hat man uns best\u00e4tigt, dass auch die Emmen im Dogu Ekspresi mitfahren k\u00f6nnen. Die Dame am Schalter in Kars sieht das aber anders, als wir auf die Mopeds zu sprechen kommen. \u201eMotosiklet no,\u201d wiederholt sie st\u00e4ndig und sch\u00fcttelt dabei mit dem K\u00f6pfchen. Wir lassen nicht locker, bis sie ihren Boss anruft. Dann erweitert sie pl\u00f6tzlich ihren einen Satz: \u201eMotosiklet no problem.\u201d Das h\u00f6rt sich schon besser an. Teschek\u00fcler (Dankesch\u00f6n)!
\nMorgens um halb Acht stellen wir uns mit beiden Emmen auf den Bahnsteig Nummer 1 am kleinen Bahnhof von Kars. Wir suchen den Verladechef oder irgendjemand anderen von der T\u00fcrkischen Staatsbahn, der uns sagen kann, wie wir die Motosiklets verladen sollen. Aber einen Verladechef gibt es nicht, denn Fahrzeuge werden auf diesem Bahnhof nicht verladen. Wir berufen uns mit einem L\u00e4cheln auf das Versprechen von gestern: Motosiklet no problem! Das Bahnhofspersonal ist gl\u00fccklicherweise l\u00f6sungsorientiert und macht eine Ausnahme: Tamam (OK). Motosiklet no problem! Als der Dogu Ekspresi einrollt, heben die M\u00e4nner die Emmen mit den H\u00e4nden rauf in den leeren Cargo-Wagon, wo sich ansonsten nur Kisten oder \u00e4hnliches stapeln. Danach r\u00e4tselt der Zugchef, wie er der Form entsprechend abrechnen kann. In der Preistabelle auf seinem Klemmbrett gibt es keine Angabe f\u00fcr mehr als f\u00fcnfzig Kilogramm Frachtgewicht. Er sch\u00e4tzt. Und mit hundert Kilogramm pro Moped liegt er zwar ein bisschen daneben, aber wir freuen uns sehr \u00fcber das Schn\u00e4ppchen von dreiunddrei\u00dfig Euro pro Motorradfahrkarte. Am Ende reist unsere kleine \u201cFamilie\u201d f\u00fcr insgesamt hundertf\u00fcnfzig Euro erster Klasse von Ost nach West durchs ganze Land.
\nDer Zug rollt p\u00fcnktlich auf die Minute um 9:10 Uhr aus dem Bahnhof. Wir machen es uns f\u00fcr die fahrplanm\u00e4\u00dfig n\u00e4chsten siebenunddrei\u00dfig Stunden im Privatabteil gem\u00fctlich. Keine schwere Aufgabe. Aus dem Fenster gucken wir erst noch auf Felder und Berge, auf die die Sonne scheint. Nicht lange, und es regnet wieder. Dann macht die Reise im trockenen Zug doppelt Spa\u00df. Nach einem super Sonnenuntergang schunkelt uns der Wagon, der durch etliche Kurven und Bergtunnel tr\u00f6delt, auf weichen Klappbetten in den Halbschlaf. Ein paar Schienenabschnitte sind wohl sehr alt. Die R\u00e4der reiben und quietschten an den Gleisen entlang und rattern laut im Takt. Manchmal k\u00f6nnte man denken, dass wir gleich entgleisen. Aber wohl nicht bei dem Tempo.
\nMit f\u00fcnf Stunden Versp\u00e4tung trudeln wir nachts um drei auf dem Haydarpa\u015fa Bahnhof in Istanbul ein. Wir sind auf einmal hell wach. Die Abladung der Emmen erfolgt blitzschnell und wir nutzen die verf\u00fchrerische Stille der Nacht, um uns auf leeren Stra\u00dfen aus Istanbul davonzustehlen. In dieser Stadt haben wir vor fast genau einem Jahr den Schritt nach Asien gemacht. Jetzt bringt uns die lila beleuchtete Bosporusbr\u00fccke bei ersten Anzeichen einer Morgend\u00e4mmerung wieder zur\u00fcck. Asien ad\u00e8! Willkommen in Europa!<\/strong><\/p>\n
\nn\u00e4chste Reisegeschichte ><\/a><\/strong>
\n < zur\u00fcck zur Karte<\/a><\/strong><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"